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Stadt, Land, Fremde
Eine Filmreihe kuratiert von Florian Wüst

27. April 6. Juli 2017
bi'bakino, Prinzenallee 59, 13359 Berlin

bi-bak.de




„Die Geschichten der Migration sind Geschichten in Bewegung und Geschichten der Bewegung. Die Geschichten, die in Deutschland so lange nicht erzählt wurden, sind jedoch die der Ankunft, des Daseins. Ebenjenes Dasein, das als Ankunft in der ‚Normalität’ begriffen wird,“ schreibt Nanna Heidenreich in ihrem Buch V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration.(1)

Die Normalität der Fabrikarbeit. Die Normalität des Anspruchs auf eine Sozialwohnung. Die Normalität der Zweisprachigkeit. Die Normalität einer postmigrantischen Gesellschaft? Nicht zuletzt das türkisch-deutsche Kino seit den 1980er Jahren hat eine mediale Sichtbarkeit der Migration geschaffen, die das Gespenst des stummen, zu Kommunikation und Integration unfähigen Gastarbeiters hinter sich und stattdessen Migrant*innen als selbstbewusst handelnde Subjekte in Erscheinung treten lässt.(2) Migration, Zuflucht und Mobilität fordern auf produktive Weise die traditionelle Auffassung von Kultur als einem geschlossenen System heraus. Doch der Transnationalität der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in Europa tritt heute wieder verstärkt der rechtspopulistisch befeuerte Rückzug auf die Nation, auf feste Zugehörigkeiten und Ausschlüsse des vermeintlich Anderen entgegen.

Vor diesem Hintergrund zeigt die sechsteilige Filmreihe Stadt, Land, Fremde vielfältige Bewegungen, handelt von Gehen und Bleiben, Freiheit und Grenzen, Recht und Gewalt. Die Auswahl an historischen und zeitgenössischen Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmen fokussiert dabei nicht nur auf den Ort der Stadt und ihre sich verändernden Arbeits- und Wohnbedingungen, sondern ebenso auf die Migrationsbewegungen von West nach Ost und Ost nach West in den Folgejahren der Wiedervereinigung sowie die Geschichte und Gegenwart des strukturellen Rassismus in Deutschland.


27. April 2017, 20:00

Gölge, Sema Poyraz & Sofoklis Adamidis, BRD 1980, 93'
Anschließendes Publikumsgespräch mit Sema Poyraz

Gölge ist Sema Poyraz' Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) und entstand in Zusammenarbeit mit ihrem griechischen Kommilitonen Sofoklis Adamidis. Der abendfüllende Spielfilm handelt von Gölge, die mit ihrer jüngeren Schwester und ihren aus der Türkei stammenden Eltern in einer beengten Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Kreuzberg lebt. Sie versucht zwischen migrantischer und deutscher Lebenswelt einen eigenen Platz zu finden. Die Idee zum Drehbuch kam Poyraz beim Sehen einer Dokumentation über türkische Mädchen und Frauen in Berlin, greift aber auch ihre eigenen Erfahrungen als Türkin in Deutschland auf. Gölge wurde vom Sender Freies Berlin (SFB) koproduziert; die Erstausstrahlung erfolgte im August 1980 unter dem Fernsehtitel Zukunft der Liebe.


11. Mai 2017, 20:30

Das Fremde, Detlef Gumm, Hans-Georg Ullrich, DE 1994, 86'
Anschließendes Publikumsgespräch mit Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich



Der vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) koproduzierte Dokumentarfilm Das Fremde spürt in der besonderen historischen Situation der Nachwendezeit in Ostdeutschland verschiedenen Erfahrungen der Migration, der Rückkehr und des Fremdseins im eigenen Land nach. Als roter Faden dienen dem Film die Reflexionen der 1961 in Cottbus geborenen Ärztin Gabriela Willbold, Tochter eines afrikanischen Vaters und einer deutschen Mutter, die von ihrem Leben mit der anderen Hautfarbe in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland erzählt.


25. Mai 2017, 21:00

Ekmek Parasi – Geld für's Brot, Serap Berrakkarasu, Gisela Tuchtenhagen, DE 1994, 100'
Anschließendes Publikumsgespräch mit Gisela Tuchtenhagen

Das Gemüse kommt aus dem Garten hinterm Haus, der Fisch kommt aus der Dose und das Geld für's Brot aus der Fabrik. Dieses Geldes wegen kamen sie her. Frauen aus der Türkei, Frauen aus Mecklenburg – gemeinsam stehen sie am Fließband der Hawesta Fischfabrik in Lübeck. Braungefärbte Hände, penetrant haftender Fischgeruch, schmerzende Arme und Rücken. Würde diese Arbeit von Männern gemacht, wäre sie längst schon automatisiert. Aber Frauenarbeit ist billig und die Frauen beklagen sich nicht, trotz der vielen Probleme. Sie haben gelernt zu arbeiten. Auch das ist ihr Stolz.


15. Juni 2017, 21:00

Kurzfilmprogramm


Inventur – Metzstrasse 11, Zelimir Zilnik, 1975

Mit einem Schwerpunkt auf Berlin begeben sich die Filme des Kurzfilmprogramms von Stadt, Land, Fremde in Stadt- und Wohnräume, Amtszimmer, Treppenhäuser und U-Bahnhöfe. Auf dokumentarische wie künstlerisch-essayistische Weise werden migrantische Erfahrungen von Stadt und Alltag, Gewalt und Erinnerung aufgezeichnet, fiktionalisiert und in ihrer politischen Bedeutung reflektiert. Eine Zeitreise durch fünf Jahrzehnte einer Ästhetik der Migration, die zunehmend auch von experimentellen filmischen Arbeiten getragen wird, „welche Film ebenso als Mittel der Repräsentation wie als Methode der Exploration nutzen“(3).

Das Zimmer, Johannes Beringer, BRD 1966, 15'
Inventur – Metzstrasse 11, Zelimir Zilnik, BRD 1975, 9'
Ich deutsche Behörde, Ezra Gerhardt, Alf Böhmert, BRD 1981, 24'
Nyx, Claire Hooper, UK/DE 2010, 22'
Tiefenschärfe / Depth of Field, Alex Gerbaulet, Mareike Bernien, DE 2016/17, 15'


Anschließendes Publikumsgespräch mit Ezra Gerhardt-Schubert, Alex Gerbaulet und Mareike Bernien.



29. Juni 2017, 21:00

Ich Chef, Du Turnschuh, Hussi Kutlucan, DE 1998, 95'
Anschließendes Publikumsgespräch mit Hussi Kutlucan

Hussi Kutlucans Spielfilm Ich Chef, Du Turnschuh, eine Produktion des ZDF – Das kleine Fernsehspiel, dreht sich um den armenischen Asylbewerber Dudle (von Kutlucan selbst gespielt). Mal ist der mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnete Film zum Lachen, mal zum Weinen, mal ernsthaft und dramatisch, mal albern und sentimental. Ich Chef, Du Turnschuh versteht es, den Unmenschlichkeiten und Absurditäten der Flüchtlingsexistenz im vermeintlichen Rechtsstaat durch Leichtigkeit und Charakter auf die Schliche zu kommen.


6. Juli 2018, 21:00

Miete essen Seele auf, Angelika Levi, DE 2015, 55'

Anschließende
s Publikumsgespräch mit Angelika Levi und Sandy Kaltenborn (Kotti & Co)

In der Nacht des 26. Mai 2012 zimmerten einige Bewohner*innen der Sozialwohnungen am südlichen Kottbusser Tor, mehrheitlich türkischstämmige Nachbarn, aus Europaletten ein Protesthaus zusammen. Sie nannten es „Gecekondu“, aus dem Türkischen übersetzt heißt das: „Über Nacht erbaut“. Mit dieser Besetzung eines öffentlichen Platzes im Zentrum von Kreuzberg begann die Mieterinitiative Kotti & Co einen bis heute täglich sichtbaren Widerstand und setzte das Thema des Sozialen Wohnungsbaus und die massive Verdrängung einkommensschwacher Haushalte aus der Berliner Innenstadt auf die politische Agenda.
Menschen mit sehr verschiedenen Biografien und politisch unterschiedlichen Ansichten begannen miteinander zu reden und ihre Geschichten zu teilen. Die Abgrenzungen und Vorurteile wichen einer positiven Verunsicherung, aus Nachbarschaft entstand Freundschaft. Miete essen Seele auf dokumentiert zwei Jahre nachbarschaftlicher Organisierung und Protest. Die Initiative fordert Mietobergrenzen sowie die Rückführung der Sozialwohnungen in städtisches Eigentum. Angelika Levis zusammen mit Christoph Dreher gedrehter Film verknüpft dabei die Wohnungsfrage mit der Geschichte der Migration und betont eine Verbindung von Rassismus und urbaner Verdrängung.


(1) Nanna Heidenreich, V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration, Bielefeld 2015, S. 154.
(2) Vgl. Deniz Göktürk, Migration und Kino. Subnationale Mitleidskultur und transnationale Rollenspiele?, in: springerin, Heft 2/2001, S. 42-47.
(3) Jana König, Elisabeth Steffen, Conflicted Copy – ein Streifzug durch das Filmprojekt Mauern 2.0. Migrantische und antirassistische Perspektiven auf den Mauerfall. Gestern und heute, in: Frauen und Film, Heft 67: Migration, 2016, S. 25.